Stellungnahme der Suchthilfe
09 Okt

Die Suchtprävention steht vor einer neuen, großen Herausforderung. Die politischen Weichenstellungen lassen erwarten, dass es eine gesetzlich geregelte Abgabe von Cannabis für den Genusskonsum für Erwachsene geben wird. Die LSS hat sich in ihrer Positionierung vom Oktober 2021 für eine geregelte Abgabe ausgesprochen. Dies in allererster Linie, um die Kriminalisierung der Konsument:innen zu beenden. Damit wird keinesfalls die Substanz Cannabis verharmlost. Cannabis bleibt weiterhin eine riskante Sucht-Substanz, die jedoch unter gesetzlich geregelten Zugängen sowohl in der Substanzbeschaffenheit als auch in der Abgabe kontrolliert werden kann. In dieser Kontrolle liegt ein großes Potential für die Gesundheitsförderung und Harm Reduction, aber auch für die Zurückdrängung des riskanten Zugangs über den Schwarzmarkt.


Mit dem legalen Verkauf von Cannabis an Erwachsene ist eine Konsumausweitung nicht unwahrscheinlich. Damit wird zwangsläufig auch der Problemkonsum zunehmen. Schon heute ist Cannabis nach Alkohol der zweithäufigste Beratungs- und Behandlungsanlass in den ambulanten Einrichtungen der Suchthilfe. Die Suchthilfestatistik der LSS zeigt eine deutliche Steigerung der Cannabis assoziierten Störungen in den letzten Jahren. Während 2009 noch 12,2 % der Klient:innen mit der Hauptdiagnose Cannabis registriert wurden, sind in der Suchthilfestatistik BW von 2020 23,2 % verzeichnet – was in absoluten Zahlen 9.576 Betreuungsprozesse bedeutet. Der bundesdeutsche Suchtsurvey 2018 dokumentiert 0,6 % Abhängigkeit bei Cannabis in der Gesamtstichprobe. Unter den Cannabis Konsument:innen wird ein Anteil von 9,3 % mit Abhängigkeit festgestellt. Die Ergebnisse des Alkoholsurveys 2021 zu Alkohol, Rauchen, Cannabis und Trends der BZgA (Juni 2022) beschreiben den Konsum Level wie folgt: „Von den 18- bis 25-jährigen jungen Erwachsenen verfügte mit einer Lebenszeitprävalenz von 50,8 % die Hälfte über eigene Konsumerfahrung. Ein Viertel (25,0 %) hatte in den letzten zwölf Monaten Cannabis konsumiert. Etwa ein Achtel (12,0 %) konsumierte auch in den letzten 30 Tagen. Rund ein Zwölftel (8,6 %) hatte in den letzten zwölf Monaten regelmäßig Cannabis konsumiert.“ – Der Anteil Jugendlicher (12 – 17 Jahre) mit regelmäßigem Cannabiskonsum, das heißt mehr als zehnmal in den letzten zwölf Monaten, beträgt in dieser Studie 1,6 %.1


Auch wenn der freie Zugang zum Cannabiskonsum nur für Erwachsene gelten wird, so ist der Konsum bei Jugendlichen nicht zu verhindern. Dieser Umstand und diese Konsumzahlen belegen, dass der freie Zugang zum Cannabiskonsum für Erwachsene zwingend verstärkt mit Präventionsangeboten, insbesondere auch für Jugendliche und junge Erwachsene, einhergehen muss.

Unser Präventionsziel muss es daher sein, den Nicht-Konsum zu stärken, den Erstkonsum so weit wie möglich hinauszuzögern und möglichst risikoarme Konsummuster bei den Konsumierenden zu erreichen. Und wenn Konsum zum Problem wird, muss möglichst früh und gut erreichbare Hilfe zur Konsumreduzierung zur Verfügung stehen.

Die Landesstelle für Suchtfragen fordert, dass Jugendschutz und Prävention konsequent im Vordergrund stehen müssen. Wir setzen uns dafür ein, dass dieser Paradigmen- und Normenwechsel von Beginn an mit einer flächendeckenden Cannabisprävention in den wichtigsten Settings begleitet wird. Dabei muss vor allem die universelle Prävention im Jugendalter Vorrang haben. Alle Settings, in denen Jugendliche in ihren Lebenswelten gut erreicht werden können, sind dafür wichtig. An erster Stelle stehen die Schulen, aber auch Jugendzentren oder Sportvereine können als Präventionssettings erschlossen werden.

Präventionsbotschaften müssen klar, eindeutig und an der Zielgruppe orientiert sein. Um möglichst mit gemeinsamen Präventionsbotschaften in Baden-Württemberg aufzutreten, sehen wir es als zielführend an, wenn im Land in der universellen wie in der indizierten Prävention einheitliche, qualitätsgeprüfte Konzepte zum Einsatz kommen. Die LSS ist der Meinung, dass für die Endadressat:innen hierzu keine neuen Programme entwickelt werden müssen, sondern bewährte und evaluierte Programme zum Einsatz kommen sollten. Lediglich eine Anpassung an die neue Gesetzeslage ist erforderlich. Für Multiplikator:innen jedoch sollten spezifische Informations- und Handlungskonzepte neu aufgelegt werden. Denn eine Normenveränderung zieht weitreichende Regel- und Haltungsänderungen in den Institutionen nach sich. Auch muss über neue Zielgruppen bei den Multiplikatoren nachgedacht werden, um auch im Bereich der Verhältnisprävention Fortschritte zu erzielen.

Damit landesweit einheitliche Programme eingesetzt werden, müssen dafür entsprechende Ressourcen zur Verfügung stehen. Eine programmbezogene Förderung/Finanzierung wird einen zentralen Anreiz darstellen.

Die folgenden fachlichen Empfehlungen legen die Kriterien zugrunde, dass die Programme evaluiert sind, positive Erfahrungswerte der Durchführung vorliegen und in Baden-Württemberg ein nennenswerter Verbreitungsgrad erkennbar ist. Dies impliziert das die Empfehlungsliste nicht abgeschlossen ist, sofern weitere Programme den Kriterien entsprechen.

Universelle Prävention – Endadressat:innen
Zu dem Präventionsprogramm „Cannabis – Quo Vadis“ (CQV) liegen seit vielen Jahren profunde Erfahrungen vor. In Baden-Württemberg wird das Programm bereits an zahlreichen Standorten eingesetzt. Das Programm ist konzipiert für das Setting Schule für die Klassen 8 bis 10. Aber auch andere Settings wie z.B. Jugendhäuser, Einrichtungen der Jugendhilfe oder Sportvereine können für das Programm gewonnen werden.

Die Expertise zur Suchtprävention (BZgA 2020) stellt fest, dass insbesondere die schulische Suchtprävention über die reine Substanzinformation hinausgehen muss und durch Interaktion das persönliche Verhalten reflektiert werden muss. Dies wird durch das Programm „Cannabis – quo vadis?“ erfüllt.

„Cannabis – quo vadis?“ ist ein interaktiver Workshop, der in der 8. – 10. Klasse (12 bis 16 Jahre) eingesetzt wird. Der Workshop nimmt ca. 120 Min. für die Umsetzung in Anspruch. Das lässt sich gut in die schulischen Strukturen integrieren. Anhand von sechs „Etappen“ werden fachlich fundierte und sachliche Informationen zum Thema Cannabis vermittelt. Darüber hinaus werden persönliche und biographische Themen behandelt sowie das soziale Umfeld berücksichtigt. Durch Interaktion werden die Themenfelder vertieft. Abschließend erhalten die Teilnehmenden Informationen über das Hilfesystem in deren Region. Ein Herzstück von CQV ist die Methodenbox – eine motivierende Arbeitshilfe. Diese wird ausschließlich im Zusammenhang mit einer einführenden Schulung den Fachkräften bzw. den Präventionsfachstellen überlassen. Die Methodenbox kann nicht ohne Qualifizierung eingesetzt oder erworben werden.

Da für Jugendliche nach wie vor Cannabiskonsum verboten bleiben wird, muss das Programm lediglich in seinen gesetzlichen Neuregelungen nachgebessert werden. Da das Programm seinen Schwerpunkt in der Interaktion und dem Gespräch hat, die Methodenbox hauptsächlich mit Bildern arbeitet, ist das Konzept auch für leichte Sprache geeignet.

„Cannabis – Quo vadis“ wurde mit positiven Ergebnissen evaluiert und wird z. Zt. vom IFT Nord erneut evaluiert. Die Ergebnisse sollen im Herbst 2022 vorliegen. Als Vorabinformation liegt der LSS bereits vor, dass es zu einer Empfehlung von CQV kommen wird.

CQV hat in Baden-Württemberg bereits einen guten Verbreitungsgrad (32 geschulte Fachkräfte). Bereits geschulte Trainer:innen würden lediglich eine kurze Nachschulung wg. der Neuerungen erhalten. Neue Trainer:innen werden wie bisher in einer 1-tägigen Schulung qualifiziert.

Universelle Prävention – Multiplikatoren – Eltern

Aus der Präventionsforschung wissen wir, dass sich die Wirksamkeit von Prävention bei Jugendlichen erhöht, wenn auch die Eltern einbezogen werden. Eltern müssen daher als Multiplikatoren sowohl im schulischen Setting als auch darüber hinaus regelhaft angesprochen werden.

Die Landesstelle empfiehlt für Eltern im Bereich Cannabisprävention ein landesweites, einheitliches Angebot zu etablieren. Sie sieht darin eine geeignete Strategie, in Baden-Württemberg effizient, zielgerichtet und in der Fläche auf die gesetzliche Cannabis-Änderung präventiv zu reagieren.

Eltern können großen Einfluss ausüben auf den Konsumeinstieg und das Konsumverhalten bei Jugendlichen. Gerade auch in der Lebensphase, in der die Jugendlichen sich gegenüber den Eltern abgrenzen und der Einfluss der Freund:innen zunimmt, bleiben die Eltern trotzdem ein wichtiger Referenzpunkt. Eine systematische Literaturanalyse von Sucht Schweiz (2016)2 bestätigt dies. Zentrale Einflussfaktoren sind das Interesse der Eltern am Freizeitverhalten der Teenager, nachvollziehbare und durchgesetzte Regeln und das regelmäßige, vertrauensvolle Gespräch.

Diese Erkenntnisse unterstützen den Ansatz, Eltern als Multiplikatoren bei der Cannabisprävention besonders in den Blick zu nehmen.

Da Eltern besonders gut im schulischen Kontext angesprochen werden können, sollte „Cannabis – Quo Vadis“ mit einem Eltern-Modul ergänzt werden. Das Modul könnte sowohl als Online – als auch als Präsenz Format aufgelegt werden. Handlungsleitend sollten Niedrigschwelligkeit und potentielle Akzeptanz bei der Zielgruppe sein. Neben dem Einsatz im Setting Schule sollte es aber auch eigenständig in anderen Settings eingesetzt werden können.

Verhältnisprävention – Schaltstelle Schulleitungen

Es gilt als „state of the art“ in der Prävention, dass das Zusammenspiel von Verhaltens- und Verhältnisprävention stimmen muss. Im Setting Schule spielt Haltung und Einfluss der Schulleitung dabei immer eine zentrale Rolle. Da die Änderung zum Umgang mit Cannabis erhebliche Veränderungen in der Kommunikation und Strategie für die Schulen bedeutet, sehen wir die Schulleitungen als zentrale Schaltstellen. Deshalb sollte ein spezifisches, niedrigschwelliges Informations- und Schulungsangebot für Schulleitungen entwickelt und angeboten werden.

Die normative Veränderung des Umgangs mit Cannabis wird eine einschneidende Haltungs- und Einstellungsveränderungen in den Schulen nach sich ziehen müssen. Zwar wird der Cannabiskonsum für Jugendliche weiterhin unerlaubt bleiben, dennoch wird die gesellschaftliche Entwicklung hin zu einer moderateren Drogenpolitik mit seinen Auswirkungen in die Schulen schwappen. Der Umgang damit in den Schulen wird auch dazu beitragen, ob und wie sich die Liberalisierung gesellschaftskonform verankern lassen wird. Die Bedeutung für Verhaltens- und Verhältnisprävention an Schulen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aus diesem Grund halten wir es für erforderlich und zielführend, Schulleitungen aktiv in den Präventionsprozess einzubeziehen.

Um Schulleitungen/Rektor:innen als zentrale Akteur:innen der schulischen Cannabisprävention zu informieren, halten wir ein zweistufiges Angebot für geeignet. Das Ziel ist, dass möglichst alle Schulleitungen im Land die neuen gesetzlichen Regelungen und ihre Bedeutung für die Schulen kennen und über relevante Präventionsansätze informiert sind. Dafür sollte ein niedrigschwelliges (max. 1 Std.), online basiertes Informationsformat erstellt werden. Darüber hinaus sollen vertiefende Veranstaltungen (max. ½ tägige Online- oder Präsenzformate) angeboten werden. Hier sollen Präventions- und Interventionsprogramme, die Bedeutung von Stufenplänen sowie erweiterte Handlungskompetenzen thematisiert werden. Optimalerweise werden die aufbauenden Schulungen regional organisiert. Damit kann gleichzeitig die Vernetzung der Präventionsfachstellen mit den Schulen gestärkt bzw. ausgebaut werden.

Ein angemessenes Konzept für Schulleitungen muss erstellt werden.

Indizierte Prävention – Endadressat:innen

FreD
Für auffällig konsumierende Jugendliche und junge Erwachsene sollten flächendeckend Frühinterventionsprogramme zur Verfügung stehen. In Baden-Württemberg hat das Programm FreD einen relativ hohen Verbreitungsgrad. FreD (Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsument:innen) ist ein seit vielen Jahren bewährtes und positiv evaluiertes Frühinterventionsprogramm. Eine Aktualisierung im Hinblick auf eine geänderte Gesetzeslage ist vom Konzeptträger3 geplant.

Das Konzept ruht auf den Pfeilern frühzeitig, kurz und gezielt sowie freiwillig. Diese Grundpfeiler würden nach wie vor ihre Gültigkeit behalten. Einzelkontakt und Gruppenprogramm sind aufeinander bezogen. Das Gruppenprogramm vermittelt Substanzinformationen, Grundlagen zum Gesundheitsverhalten und stellt den Erwerb von Risikokompetenz und die Reflexion individueller Schutzfaktoren in den Mittelpunkt.

Wir glauben, dass ein einheitlich kommuniziertes Konzept eine starke Botschaft transportiert. Dies ist umso wichtiger, da die bisherige Vermittlung durch die Polizei zukünftig nur noch eingeschränkt zum Tragen kommen wird. Durch eine offensive Bekanntmachung und Bewerbung eines landesweiten Programms könnte das teilweise abgefedert werden. Synergien in der Bekanntmachung könnten genutzt werden.

FriDA
Das Beratungskonzept „FriDA“ ist familienorientiert ausgerichtet und zielt auf eine Stärkung der Vernetzung von Suchthilfe, Jugendhilfe und Schule ab. Zielgruppe sind Familien mit Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren, in denen jugendlicher Substanzkonsum als Problem wahrgenommen wird.
F ür systemisch-familienorientierte Angebote in der Suchthilfe ist eine hoheWirksamkeit in der professionellen Unterstützung jugendlicher Cannabismissbraucher:in-
nen nachgewiesen (EMCCDA 2014). Durch den Einbezug der Eltern und des sozialen Umfelds können ambivalent motivierte Jugendliche gut erreicht werden.
Die Modellphase des Programms FriDA wird bis März 2023 abgeschlossen sein. Positive Evaluationsergebnisse sind bereits jetzt abzusehen.

1 Orth, B. & Merkel, C. (2022). Der Substanzkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland. Ergebnisse des Alkoholsurveys 2021 zu Alkohol, Rauchen, Cannabis und Trends. BZgA-Forschungsbericht. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
2 https://www.suchtschweiz.ch/aktuell/medienmitteilungen/article/substanzkonsum-der-jugendlichen-eltern-koennen-auch-bei-teenagern-einfluss-nehmen/
3 LWL Koordinierungsstelle Sucht – https://www.lwl-fred.de/de/