Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Möglichkeit, zur o.g. Anfrage eine Stellungnahme abgeben zu können. Als Landesstelle für Suchtfragen ist es uns ein großes Anliegen, dass dem Krankheitsbild FASD mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Landesstelle für Suchtfragen führt bereits seit vielen Jahren Veranstaltungen oder Kampagnen in unterschiedlichen Formaten und für unterschiedliche Zielgruppen durch, um auf diese wenig beachtete Problematik aufmerksam zu machen. Ziel ist dabei für uns, dass die Betroffenen und ihre Familien früher und zielgerichteter Hilfe erfahren. Da FASD eine Behinderung ist, die in den meisten Fällen unerkannt bleibt, werden die Folgeprobleme sehr oft anderen Ursachen zugeschrieben und dadurch nicht adäquat behandelt. Das verursacht bei den betroffenen Familien viel Leid und bei Institutionen große Hilflosigkeit.
FASD ist eine zu hundert Prozent vermeidbare Behinderung. Die Gesellschaft muss alles dafür tun, um diese Schädigung des ungeborenen Lebens durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu verhindern. Breite Aufklärung, zielgruppenspezifische Prävention sowie verhältnispräventive Mittel wie Warnhinweise auf den Produktverpackungen – analog zu Medikamenten – sind da zielführend.
Deshalb begrüßen wir es außerordentlich, dass die Politik dieses Thema aufgreift. Davon erhoffen wir uns, dass FASD aus dem Nischendasein herausgeführt wird und die gesellschaftliche Verantwortung eingelöst wird.
Im Folgenden nehmen wir Stellung zu den spezifischen Fragestellungen, sofern uns dazu Kenntnisse vorliegen.
1.Wie viele Kinder in Baden-Württemberg pro Jahr von alkoholkranken und drogenabhängigen Müttern geboren werden.
Diese Frage kann nicht konkret beziffert werden. Es gibt keine Statistik, die gezielt alkohol- oder drogenkranke Mütter registriert. Abhängigkeit vollzieht sich oft im Verborgenen und ist zudem für keine Institution „meldepflichtig“. Auch für FASD besteht keine Meldepflicht. Darüber hinaus muss konstatiert werden, dass auch geringe Mengen Alkohol in der Schwangerschaft eine Schädigung des Ungeborenen verursachen kann. D.h., es gilt hier nicht nur den abhängigen oder problematischen Alkoholkonsum zu betrachten, sondern prinzipiell jeglichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft.
Die S3 Leitlinie zu FASD gibt für Europa eine Prävalenz zwischen 0,2 bis 8,2 pro 1.000 Geburten an. Zitat: „Die große Bandbreite dieser Prävalenzen lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen, darunter die große Heterogenität in Studiendesign, Auswahl und Anzahl der Teilnehmer und verwendeten Definitionen. Die einzigen aufsuchenden Studien aus Italien gehen von einer Prävalenz der FASD (gesamtes Spektrum) von mind. 2% aller Kinder aus. Verglichen mit anderen neuropädiatrischen Erkrankungen wie z.B. dem Down-Syndrom (0,1 – 0,2) (….) und der Cerebralparese (0,2 – 0,3) ist das Fetale Alkoholsyndrom in Deutschland sehr häufig.“
Dr. Pfinder führt auf, dass in Deutschland jährlich 2.222 Kinder mit FAS (Inzidenz = 1:300) und weitere 4.500 Kinder mit FASD (Inzidenz = 1:100) geboren werden. Außerdem geht man in Deutschland von 1-2 % alkoholkranker Frauen aus, die mindestens 8.000 Kinder pro Jahr zur Welt bringen. Diese Grundlage lässt zu, dass man von 1 % der Neugeborenen als Betroffenen ausgehen kann. Das würde statistisch für Baden-Württemberg bedeuten, dass jährlich rund 1.100 Neugeborene betroffen sind.
In der Suchthilfestatistik Baden-Württemberg werden alle Klient:innen dokumentiert, die mit Suchtproblemen in Beratung und/oder Behandlung sind. In Baden-Württemberg sind dies jährlich rund 65.000 Menschen. Rund 40 % der Hilfesuchenden haben eigene Kinder. Diese Zahl gibt jedoch keinen Aufschluss darüber, wieviel Kinder möglicherweise von FASD betroffen sind, denn ¾ der Klient:innen der Suchtberatungsstellen sind männlich und hinzu kommen auch die Klient:innen mit Drogengebrauch. Letztere bergen zwar ein hohes Risiko für eine Gesundheitsgefährdung durch Konsum in der Schwangerschaft, aber FASD ist ausschließlich eine alkoholbezogene Störung. Allgemein gilt es als gesichert, dass mindestens jedes 7. Kind betroffen ist von einem suchtkranken Elternteil. Die Landesstelle für Suchtfragen hat dazu errechnet, dass demnach in Baden-Württemberg 150.000 Kinder unter 15 Jahren betroffen sind. Um aus diesen Daten FASD betroffene Kinder zu ermitteln, müssten genauere Untersuchungen hinsichtlich des Alkoholkonsums von Frauen in der Schwangerschaft durchgeführt werden.
2. Wie viele von FASD betroffene Personen es zum 31. Dezember 2020 insgesamt in Baden-Württemberg gab.
Da FASD eine irreparable hirnorganische Schädigung ist, ist diese Schädigung auch im Erwachsenenalter hoch relevant. Daher ist es wichtig, den Blick nicht nur auf die Kinder zu richten, sondern ebenso die Menschen im Erwachsenenalter in die Betrachtungen mit einzubeziehen. Bekannt ist vor allem auch eine hohe Rate Betroffener im Strafvollzug. Dies ist vor dem Hintergrund der komplexen, irreparablen hirnorganischen Störung zu erklären, die Erfahrungslernen verhindert und Generalisierungen deutlich erschwert. Außerdem entwickeln ein Drittel der Betroffenen im Laufe Ihres Lebens selber eine Sucht. Rund 80 % der Menschen mit FASD können kein völlig selbständiges Leben führen. Sind also auf Betreuung, Beratung und Begleitung im Alltag angewiesen.
Auch hier kann die Prävalenz aller Betroffenen nicht exakt benannt werden, da es keine Dokumentation von FASD Behinderung gibt. Hinzu kommt, dass sich die Diagnostik ausgesprochen komplex darstellt und die Dunkelziffer sehr hoch angenommen wird. Legt man als Betroffenheitsgröße wieder die 1 % an auf die Gesamtbevölkerung Baden-Württembergs, so kommt man auf eine Zahl von rund 111.000 Menschen.
3. Ob es in Baden-Württemberg ausgewiesene Fachpraxen bzw. Zentren gibt, die diesbezüglich Diagnostik durchführen.
Die Zuständigkeit für Diagnostik und Behandlung für Störungen im Kindes- und Jugendalter liegt in Baden-Württemberg bei den 18 Sozialpädiatrischen Zentren – SPZ. Dem Grunde nach, müsste an all diesen Stellen eine FASD Diagnostik gestellt werden können. Experten für FASD weisen jedoch darauf hin, dass die Diagnostik ausgesprochen komplex ist und ein Spezialwissen voraussetzt. Da die Diagnostik auch auf die Auskunft der Eltern angewiesen ist, das Thema Alkoholkonsum in der Schwangerschaft aber sehr schambehaftet ist, fehlen wichtige Informationen für eine zutreffende Diagnostik. Diese Zusammenhänge legen nahe, dass die Diagnose FASD deshalb unangemessen selten gestellt wird.
Der Landesstelle für Suchtfragen ist das SPZ in Ludwigsburg als ausgewiesene Fachstelle für FASD bekannt. Aber es ist dringend geboten, in weiteren SPZ eine Spezialisierung auf diesen Störungsbereich zu etablieren bzw. soweit vorhanden dies bekannt zu machen.
Fachstellen für die Diagnostik von FASD bei Erwachsenen sind nicht bekannt.
Zu den Fragen 4, 5, 6 und 7 liegen uns zuständigkeitshalber keine direkten Kenntnisse vor. Jedoch aus Erfahrung von Fachtagen, Seminaren oder aus Netzwerken wissen wir, dass in den genannten Berufsgruppen kaum Kenntnisse zu FASD vorliegen. Selbst FASD als Störungsbeschreibung ist oft nicht bekannt. Als Landesstelle für Suchtfragen sehen wir dringenden Handlungsbedarf, FASD verbindlich in den Ausbildungscurricula der genannten Berufe zu verankern.
Die Landesstelle für Suchtfragen hat in der Vergangenheit immer wieder Fortbildungsangebote zu FASD angeboten. Die Resonanz dazu lässt jedoch den Rückschluss zu, dass die Thematik in den jeweils systemimmanenten Fortbildungsbereichen integriert werden muss, um eine höhere Inanspruchnahme zu erreichen.
Da Menschen mit FASD Störungen ein besonders hohes Suchtrisiko tragen, sehen wir neben den notwendigen Unterstützungsangeboten der Jugendhilfe in Pflegefamilien und Wohngruppen einen hohen Bedarf an spezifischer Suchtprävention. Hierzu sollten regional von den Suchthilfeeinrichtungen in Kooperation mit der Jugendhilfe spezifische familienorientierte Angebote eingesetzt werden. Ein Ansatz dafür können die Strukturen des vom Land geförderten (und abgeschlossenen) Projekts „Schulterschluss“ sein, wo Jugendhilfe und Suchthilfe zum Thema „Kinder suchtkranker Eltern“ intensiv zusammengearbeitet haben.
8. Welche Konsequenzen aus dem vom KVJS geförderten Modellprojekt „FASD Hilfe“ gezogen werden.
Im Projekt „Schulterschluss“ haben die Landesstelle für Suchtfragen und der KVJS eng kooperiert. Deshalb ist der Landesstelle das genannte Modellprojekt gut bekannt. Das Modellprojekt hat die vermutete, enorme Unwissenheit und die hohen Bedarfe an Unterstützung für betroffene Familien und Institutionen eindrucksvoll gezeigt. Die Ergebnisse haben bereits dazu geführt, dass auch die Landesstelle für Suchtfragen das Thema FASD erneut auf die Agenda gesetzt hat. Einen dringenden Bedarf sehen wir auf Landesebene darin, dass die für Diagnostik, Versorgung und Prävention zuständigen Institutionen an „einen Tisch“ geholt werden müssen um eine abgestimmte Strategie für Ausbildung und Vernetzung zu schaffen. Im Wesentlichen sehen wir da Vertretungen von SPZ, Hebammen, Gynäkolog:innen, Kinder- und Jugendärzt:inen, FASD Selbsthilfe, Jugendhilfe, Adoptivstellen, Suchthilfe, Behindertenvertretung, Schulen vertreten durch das ZSL und weitere zuständige Landesbehörden.
Universelle Suchtprävention an Schulen muss Aufklärung über FASD standardmäßig integrieren. Das bedeutet aber auch, dass nicht nur in den Klassen 6 bis 8 Suchtprävention durchgeführt wird, sondern gerade Abschlussklassen an allen Schularten suchtpräventive Einheiten absolvieren sollten. Dabei ist darauf zu achten, das nicht nur Mädchen und junge Frauen als Zielgruppe gesehen werden, sondern Jungen und junge Männer einbezogen werden. Hierzu empfiehlt die Landesstelle explizit FASD Schulungseinheiten in der Lehrerbildung (ZSL) aufzunehmen.
Ein Projekt des Deutschen Instituts für Sucht- und Präventionsforschung der Kath. HS NRW konnte zeigen, dass durch ein spezielles Interventionsprogramm in Schwangerschafts-beratungsstellen die Erfassung, Sensibilisierung und Veränderungs-unterstützung bei Schwangeren hinsichtlich Alkoholkonsums erfolgreich eingesetzt wurde. Diese Erkenntnisse müssen konsequent umgesetzt werden. Wir leiten daraus ab, dass entsprechende Interventionsprogramme flächendeckend in der Schwangerschaftsberatung, in der Gynäkologie und Geburtsvorbereitung eingeführt werden. Entsprechende Schulungen müssen zum Standard der betroffenen Berufsgruppen gehören.
Des Weiteren müssten FAS und FASD in der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) angemessen bewertet werden. Mit einer angepassten Verordnung könnten Sozialbehörden und Gerichte die Diagnose FAS als „Behinderung mit Hilfslosigkeit“ akzeptieren.
In der Suchthilfe muss im Rahmen der Anamnese regelhaft eine Familienanamnese und Familiendiagnostik mit Blick auf die Kinder durchgeführt werden. Dafür müssen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Aufgrund der hohen Quote von FASD Fällen im Strafvollzug muss das Suchtkonzept des Justizvollzugs FASD angemessen berücksichtigen bis hin zur Diagnostik bei Verdachtsfällen.
Die Landesstelle für Suchtfragen sieht auch verhältnispräventive Maßnahmen für dringend geboten. Allem voran müssen alle Alkoholika mit einem Label „Kein Alkohol in der Schwangerschaft“ versehen werden. Verhältnisprävention ist bekanntermaßen hoch wirksam, sehr effizient und ressourcenschonend. Die Politik ist dringend aufgefordert, entsprechende Verordnungen auf den Weg zu bringen. Begleitend dazu sind diesbezügliche Gespräche mit den Verbänden der Alkoholindustrie/Getränkehersteller aufzunehmen.
Alle Einzelmaßnahmen müssen konsequent mit Öffentlichkeitsarbeit verbunden werden.
Juli 2021
Gez. Christa Niemeier
Referentin für Suchtfragen und Prävention